
Almut Kirchner analysiert seit mehr als 30 Jahren die Energiewelt und hat dabei frühzeitig viele Trends identifiziert. Wie hat sich das Energiesystem in den letzten Jahren verändert, und wie sieht unsere elektrifizierte Welt aus, wenn der letzte leere Öltanker die Schweiz rheinabwärts verlassen hat?
Frau Kirchner, laut den Zahlen des Bundes sinkt der Schweizer Energieverbrauch seit etwa dem Jahr 2000, der Stromverbrauch seit 2010. Trotzdem wächst die Wirtschaft. Können Sie uns das erklären?
Es ist umgekehrt: Nicht trotz, sondern dank des Rückgangs wächst die Wirtschaft. Sie wurde effizienter und wuchs seit 2005 um fast 50 Prozent. Ein Viertel der Schweiz wurde neu gebaut, die Bevölkerung wächst ohne zusätzlichen Verbrauch Effizienz kompensierte Wachstum. Dazu kommen Struktureffekte.
Was bedeutet das?
Die wenig energieintensiven Branchen wachsen schneller als die letzten energiehungrigen, etwa Stahlwerke.
Heisst das nicht auch, dass wir Emissionen und Energieverbrauch ins Ausland auslagern?
Das wäre plausibel, doch Auslagerung und Strukturwandel geschahen schon, als der Energieverbrauch noch wuchs.
Wann genau?
Der Verbrauch stieg von 1960 bis etwa 2000. Der Strukturwandel setzte in den 1970ern ein, als wir aufhörten, Lastwagen und Schiffsdieselmotoren zu bauen, und keine Massenchemikalien mehr erzeugten. Gleichzeitig stieg mit der Motorisierung der Treibstoffverbrauch rasant.
Und nun importieren wir diese Emissionen einfach wieder?
Es ist komplizierter. Die neuen Industrien sind im Ausland moderner und effizienter als unsere alten Fabriken. China hat als Werkbank der Welt nur etwa die Pro-Kopf-Emissionen von Europa. Zudem sind importierte Emissionen auch die Wertschöpfung anderer Länder, etwa Kleidung aus Schwellenländern – so, wie unsere Wirtschaft auch einen Teil ihrer Emissionen wieder exportiert.
Privat haben wir grössere Autos, mehr Wohnfläche pro Kopf und mehr Haushaltsgeräte. Trotzdem sank seit ca. 2000 der Energieverbrauch insgesamt um zehn Prozent.
Almut Kirchner
Unser Energieverbrauch sinkt, weil die Dinge, die wir früher gemacht haben, heute anderswo mit weniger Energieaufwand produziert werden?
Ja. Trotzdem haben wir von allem mehr und vieles, was es früher gar nicht gab. Ein Land ohne Rohstoffe importiert sinnvollerweise Vorprodukte. Das reduziert die Transportmengen. Wir sind reich an klugen Köpfen und haben eine brummende Wirtschaft mit Dienstleistung und Forschung. Aber auch Pharma oder Präzisionstechnologien wachsen stark und mit hoher Wertschöpfung. Privat haben wir grössere Autos, mehr Wohnfläche pro Kopf und mehr Haushaltsgeräte. Trotzdem sank seit ca. 2000 der Energieverbrauch insgesamt um zehn Prozent. Seit etwa fünfzehn Jahren ist der Stromverbrauch mit leichten Schwankungen um gut fünf Prozent gesunken, selbst bei Information und Kommunikation.
Aber es gibt doch immer mehr elektronische Geräte?
Stimmt, aber die wurden alle viel sparsamer. Denken Sie nur an die alten Röhrenbildschirme für TV und Computer. Seit 2014 beträgt der Rückgang bei Informations- und Kommunikationstechnik acht Prozent. Selbst die energiehungrigen Rechenzentren konnten den Trend bisher nicht drehen. Die jährliche Gesamtenergiestatistik und die Elektrizitätsstatistik des BFE zeigen das. Die Daten sind öffentlich und spannender als jeder Krimi.
Bei den Autos wurde hingegen die Effizienz vom Gewicht weggefressen.
Es gibt auch mehr Autos und höhere Fahrleistungen. Immerhin: Bei über 40 Prozent mehr Fahrzeugen zwischen 2000 und 2023 gab es einen minimalen Rückgang der verbrauchten Treibstoffe um ein Prozent. Dagegen sank bei der Beleuchtung der Gesamtverbrauch um rund 30 Prozent zwischen 2000 und 2023. Das geht weiter, denn noch sin längst nicht überall LED montiert.

Die Physikerin Almut Kirchner
ist Direktorin und Partnerin der Prognos AG. Sie leitet den Bereich «Energie- und Klimapolitik» sowie das Kompetenzzentrum «Modelle». Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen bei modellgestützten langfristigen Prognosen und Szenarien von Gesamtenergiesystemen. Prognos arbeitet als neutrales Beratungsunternehmen für Behörden, Unternehmen, Industrieverbände, Umwelt- und Konsumentenorganisationen.
Wo werden wir sonst noch effizienter?
Den grössten Effekt gibt’s bei den Gebäuden. Die graue Energie, die in den Materialien steckt, ist im Bau seit 1990 etwa gleichgeblieben, einschliesslich der Zementproduktion. Doch alles, was seit 2000 gebaut wurde, ist supereffizient. Dazu kommen die energieeffizienten Sanierungen.
Da geht es vor allem um Wärme?
Um Raumwärme gefolgt vom Warmwasser. Die beheizte Fläche ist von 2000 bis 2023 um 32 Prozent gewachsen, der Energieverbrauch aber um 21 Prozent gesunken die Gebäudeemissionen sogar um 41 Prozent.
Ist das der Wechsel vom Heizöl zu Wärmepumpen und Fernwärme?
Der Energiemix hat sich verändert. Beim Ersatz einer alten Elektrodirektheizung durch eine Wärmpumpe mit Warmwasserproduktion betreibt der eingesparte Strom zusätzlich ein Elektroauto. Waschmaschinen, Kühlschränke und Tumbler sind heute viel effizienter und wurden in den letzten 20 Jahren komplett ausgetauscht. Der Stromverbrauch der Haushalte steigt kaum noch.
Was macht die Industrie?
Da gibt es mehr Wertschöpfung ohne zusätzlichen Verbrauch: Die allgegenwärtigen Elektromotoren sind sparsamer geworden. Abwärme wird genutzt, Lüftungs- und Kühlungsanlagen sind effizienter, Messen, Steuern und Regeln sind digital sehr viel genauer. Die Industrieemissionen sind so seit 2000 um rund 22 Prozent gesunken – weil weniger fossile Energie verbraucht wird.
Dann funktionieren Klimaschutz und Energiewende auch ohne Verzicht und Askese?
Musste irgendjemand in der Schweiz in den letzten 20 Jahren auf etwas verzichten? Wir sehen bei den weltweiten Emissionen zwar immer noch ein Wachstum. Aber auch das nimmt ab. Die spezifischen Emissionen je Wertschöpfung sinken weltweit seit vielen Jahren. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird der Peak wohl überschritten sein.
Die Energietransformation ist auf gutem Weg. Die Effizienz nimmt weltweit zu, die Emissionen der Industrieländer nehmen ab, der Anteil der Erneuerbaren am Energiemix steigt weltweit beeindruckend schnell, besonders auch in Europa.
Almut Kirchner
Wenn die Fossilen aus dem System gehen, wird der Stromverbrauch irgendwann wieder steigen. Wann rechnen Sie damit?
Der Stromverbrauch dürfte in der Schweiz ab etwa 2030 wieder deutlicher ansteigen, wenn wir Klimaneutralität bis 2050 erreichen wollen. Voraussetzung ist die Elektrifizierung des Verkehrs. Ein Elektroauto braucht aber nur ungefähr ein Drittel der Energie eines Verbrenners. Der Anstieg wird deshalb nicht proportional zu Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum verlaufen, sondern deutlich flacher.
Das heisst, Sie sehen die Energietransformation zuversichtlich?
Ich werde nicht für Emotionen bezahlt. Sagen wir es so: Die Energietransformation hat angefangen und ist auf gutem Weg. Die Effizienz nimmt weltweit zu, die Emissionen der Industrieländer nehmen ab, der Anteil der Erneuerbaren am Energiemix steigt weltweit beeindruckend schnell, besonders auch in Europa. Und da haben die meisten Länder nicht so viel komfortable Wasserkraft wie die Schweiz, mit der man alles ausregeln kann. Trotzdem gehören sowohl das Schweizer wie auch das europäische Stromsystem zu den stabilsten der Welt.
Wird das so weitergehen?
Klar, es harzt an manchen Stellen, etwa der Infrastruktur. Der Windenergieausbau könnte auch schneller gehen. Aber wir haben seit über fünfzehn Jahren diese coolen, weltweit abstürzenden Kostenkurven bei den Erzeugern von erneuerbarer Energie und jetzt auch bei den Batterien, und ein entsprechend starkes Wachstum. Damit ist es zu schaffen. Aber es braucht noch weitere Beschleunigung. Dafür sind stabil Rahmenbedingungen nötig.
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