«Technisch haben wir die Energiewende im Griff»
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05.12.2023

Was jedoch fehlt, ist der einvernehmliche gesellschaftliche Wille, sie auch mit der gebotenen Dringlichkeit umzusetzen, sagt Matthias Sulzer. Der Empa-Forscher für urbane Energiesysteme über Souveränität, Flexibilität und die Rolle, die Wasserstoff dabei spielen kann.

Herr Sulzer, wo liegen die grössten Baustellen der Schweiz mit Blick auf die Energiezukunft?
Wir haben intensiv geforscht und entwickelt. Die für die Energiewende erforderlichen Technologien sind heute vollständig verfügbar, und zwar im bezahlbaren Rahmen. Technisch und wirtschaftlich haben wir diese Aufgabe also im Griff. Die grösste Baustelle ist aber der gesellschaftliche Wille, den Umbau auch in nützlicher Frist zu vollziehen. Wir diskutieren immer noch, was denn nun die beste Lösung sei. Dabei läuft uns die Zeit davon: Denn während wir debattieren, setzen wir nichts um. Deshalb müssen wir den Energiesystemumbau endlich als Generationenprojekt betrachten, damit neuer Pioniergeist in der Gesellschaft Einzug halten kann.

Unzureichende Infrastruktur, fehlende politische Rahmenbedingungen, unglückliche Energie-Aussenpolitik: Braucht die Schweiz für das Gelingen der Energiewende ein neues Betriebssystem?
Wenn Sie darunter die Art und Weise verstehen, wie die Umsetzung erfolgen soll, ist wohl tatsächlich ein grösseres Software-Update notwendig. Wir werden das Problem nicht lösen, indem wir einfach nur Photovoltaik zubauen beziehungsweise Kernkraft ersetzen. Wenn wir eine sichere, günstige und umweltverträgliche Versorgung wollen, braucht es sämtliche dafür tauglichen Energiekomponenten und -sektoren in cleverer Kombination. Dieser systemische Ansatz schliesst auch den Austausch und Handel mit dem Ausland ein. Je vielfältiger ein Energiesystem aufgebaut ist, desto sicherer kann es betrieben werden. So lässt sich viel besser auf nicht geplante Umstände reagieren.

Gerade die erneuerbaren Energien sind mit erheblicher Planungsunsicherheit verbunden. Welches ausgleichende Potenzial birgt in diesem Zusammenhang der Energieträger Wasserstoff?
Wenn wir die immer noch dominierenden fossilen Energieträger Öl und Gas künftig aus dem System nehmen, reduziert sich die Flexibilität, unseren Bedarf zu decken. Aus rein strategischer Sicht ist es deshalb sinnvoll, wieder neue Energieträger ins System einzuführen. Dafür bieten sich erneuerbar erzeugter Wasserstoff und seine Derivate an. Deren Produktion und Import laufen nicht übers Stromnetz. Indem wir dieses entlasten, wird das ganze System robuster und flexibler.

Prof. Matthias Sulzer (54)

ist leitender Wissenschaftler im «Urban Energy System Lab» der Empa. Er lehrt an der ETH Zürich und der Hochschule Luzern, zudem hat er einen Forschungsauftrag am Berkeley Lab in Kalifornien. Nach dem Masterabschluss an der Universität von New South Wales in Sydney setzte er zahlreiche unternehmerische und innovative Ideen um. Heute konzentriert er seine wissenschaftliche Arbeit auf urbane Energiesysteme und unterstützt auf diesem Gebiet verschiedene Start-ups.

Die Schweiz liegt beim Ausbau von PV und Wind im europäischen Vergleich weit zurück. Besteht aus diesem Grund hierzulande kaum Dringlichkeit, in Sachen Wasserstoff vorwärtszumachen?
Tatsächlich könnten wir die Zuwachsraten bei der Photovoltaik ohne weiteres noch zehn Jahre so weiterführen, ohne das System ans Limit zu bringen. Bei der Windkraft ist es noch extremer: Ausgehend von heute 40 Windrädern, reden wir von 800 Einheiten, die man gerne zubauen würde. In der VSE-Studie «Energiezukunft 2050» haben wir klar aufgezeigt, dass wir mehr Flexibilität im Energiesystem brauchen. Davon gibt es mehrere Kategorien.

Welche sind dies genau?
Erstens die Fähigkeit, mit einem smarten Netz effizientes Lastmanagement zu betreiben. Zweitens Speicher jeglicher Art, darunter Wasserstoff, der auch saisonal für Ausgleich sorgen kann. Und drittens flexible Produktionsanlagen wie Pumpspeicherwerke und Wasserstoff in Kombination mit Gas-und-
Dampf-Kraftanlagen.

Wird die Photovoltaik künftig substanziell ausgebaut, fallen im Sommerhalbjahr grosse Mengen an Überschusselektrizität an. Wie ist mit dieser Überproduktion sinnvollerweise umzugehen?
Im Rahmen eines abgestimmten Zubaus erneuerbarer Energien kann Wasserstoff einen erwünschten Ausgleich schaffen. Im Zusammenspiel mit dem europäischen Stromübertragungsnetz, mit dem wir verbunden sind, ergibt sich so eine belastbare Lösung. Wir sollten uns immer bewusst sein: 2022 hat die Schweiz übers Stromnetz mehr als 20 Terawattstunden Strom exportiert und importiert. Über ein Drittel der gesamten Jahresproduktion wird also laufend ausgetauscht. So arbeitet die Stromwirtschaft übrigens seit Jahrzehnten. Permanent wird das gesamte System neu nivelliert und optimiert. Es hält sich hartnäckig die Illusion, dass man bei der Energie so etwas wie eine finale Lösung präsentieren kann. Die wird es niemals geben. Jedes Energiejahr bringt neue Herausforderungen.

«Je vielfältiger ein Energiesystem aufgebaut ist, desto sicherer kann es betrieben werden.»

Matthias Sulzer

Bis 2040 soll eine gesamteuropäische Wasserstoffinfrastruktur entstehen. Es droht jedoch Gefahr, dass das künftige H2-Versorgungsnetz der EU um die Schweiz herumgeführt wird. Welche Konsequenzen hätte dieses Szenario, und wie lässt es sich vermeiden?
Die Hoffnung ist intakt, dass die Schweiz Teil des europäischen Wasserstoff-Basisnetzes wird. Wenn wir dieses Grossprojekt jetzt zügig angehen und gut verhandeln, sollte das machbar sein. Wenn nicht, müssten andere Importwege gefunden werden. Wasserstoff und seine Derivate lassen sich grundsätzlich auch ohne Pipeline transportieren – auf der Schiene, der Strasse oder dem Wasserweg, was aber höhere Kosten zur Folge hätte.

Die Schweiz hat so etwas wie eine Wasserstoffstrategie für 2024 angekündigt. Welches sind Ihre Erwartungen?
Erwartungen dürfen ja hoch sein. (Lacht.) Für mich steht im Vordergrund, Klarheit zu schaffen in Bezug auf den Bedarf. Was erwarten wir in welchen Sektoren? Daraus muss sich eine Importstrategie bilden. Wobei wir weniger über Versorgungssicherheit reden sollten als über Energiesouveränität. Die zentrale Frage lautet: Welche Teile einer Lieferkette beherrsche ich? Bin ich am richtigen Ort, am richtigen Hebel, damit ich garantieren kann, dass Importe auch in Ausnahmesituationen funktionieren? Auch bei einer Wasserstoffstrategie sind unterschiedliche Lieferketten mit hoher Souveränität entscheidend.

Sind Sie mit Ihrer persönlichen Energiebilanz im Reinen?
Wie im Energiesystem gibt es auch bei mir keinen Endzustand – ich arbeite permanent daran. Ich habe die neueste Wärmepumpentechnologie eingebaut, eine PV-Anlage installiert, auf Elektrofahrzeuge gewechselt und die Beleuchtung auf LED umgestellt. Aber ich muss auch klar sagen: Beim Konsum und beim Essen bin ich noch auf dem Weg. Ich bemühe mich zwar um vegetarische Ernährung, doch ab und zu geniesse ich am Wochenende auch ein gutes Steak.

Autor*in Andreas Turner / Fotos Kilian J. Kessler
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